Menü

Eine positive Zukunftserzählung für alle

Die Laufzeit der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) ist zur Hälfte vorüber. Wie ist der gegenwärtige Stand? Wo liegen die größten Herausforderungen? Und welchen Einfluss hat die Weltlage darauf? Eine Halbzeitbilanz im Gespräch mit Imme Scholz.

UN Photo/ Loey Felipe

Frau Scholz, wo stehen wir zur Halbzeit der Agenda 2030?
Leider sieht es gar nicht gut aus. Die Mehrheit der Indikatoren, die man überhaupt international vergleichend messen kann, stagnieren oder verschlechtern sich sogar. Lediglich zwölf Prozent sind im grünen Bereich. Das heißt auch, dass die Ziele nicht bis 2030 erreicht werden, wenn wir nicht dramatisch gegensteuern.

Zunächst zum Positivem: Bei welchen Zielen läuft es gut?
Es gibt international leichte Verbesserungen bei der Müttersterblichkeit, beim Zugang zu Internet und Mobilfunk sowie in den Bereichen Abwasser, Stromversorgung und den Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Positiv ist außerdem, dass mehr Naturschutzgebiete ausgewiesen worden sind. Aber all das reicht leider bei Weitem nicht aus. Bei 30 Prozent der Indikatoren gibt es sogar Rückschritte.

In welchen Bereichen zeigen sich demnach die größten Schwierigkeiten?
Vor allem bei den Zielen 1 und 2, also Armut und Hunger, sieht es international gar nicht gut aus; hier steigen die Zahlen der betroffenen Menschen wieder. Auch beim Thema Kindersterblichkeit, beim weltweiten Impfschutz und der Ermöglichung von Bildung gibt es Rückschritte. Die Mordrate hat im Schnitt zugenommen und das Wirtschaftswachstum abgenommen. Noch dazu zeigen die Indikatoren für den Artenschutz ein negatives Bild. Auch bei Ziel 13, dem Klimaschutz, sollten die Alarmglocken läuten: Derzeit sehen wir eine Verdopplung der Subventionen für fossile Energieträger, anstatt dass sie abgebaut werden, und die CO2-Emissionen nehmen ebenfalls weiterhin zu.

Was ist mit den übrigen Indikatoren, die sich im Mittelfeld bewegen? Ist in diesen Bereichen alles einigermaßen in Ordnung?
Nein, der Schein trügt. Auch die 58 Prozent der Indikatoren, die quasi im gelben Bereich sind, bieten keinen Grund zur Hoffnung: Sie zeigen an, dass es zwar graduelle Verbesserungen gibt, aber dass es bei diesen Zielen nicht schnell genug voran geht. Das bedeutet, dass sie bis zum Jahr 2030 verfehlt würden, wenn es in gleichbleibender Geschwindigkeit weitergeht.

Sie waren als Ko-Vorsitzende einer unabhängigen internationalen Wissenschaftlergruppe am zweiten Bericht zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung beteiligt, der im September 2023 veröffentlicht wurde. Waren Sie überrascht davon, dass 87 Prozent der Indikatoren im gelben oder roten Bereich sind?
Es hatte sich schon angekündigt. Die Corona- Pandemie hat zu einer großen Rezession geführt und die Armut erhöht; unter den Folgen leiden viele Länder bis heute. Hinzu kommen die Auswirkungen von Kriegen und langanhaltenden Konflikten. Insbesondere der Krieg in der Ukraine beansprucht zu Recht hohe finanzielle Mittel und politische Aufmerksamkeit. Die Kombination dieser Faktoren erklären einige der Rückschritte.

So hinken wir nun auch bei der Bewältigung der Klimakrise, dem Umbau der Energiesysteme und anderen Bereichen der Umweltpolitik hinterher. Viele ärmere Länder mussten sich enorm am Markt verschulden, um die vielen Menschen ohne Einkommen zu unterstützen. Wegen der hohen Zinslast stehen nun viele kurz vor dem Bankrott. Die weltweiten durchschnittlichen Einkommen und das Wirtschaftswachstum haben laut Daten der Weltbank abgenommen, die Zahl der Menschen in extremer Armut ist nach ihren Schätzungen um bis zu 95 Millionen angestiegen.

Durch die Pandemie fand vielerorts über lange Zeit kein regelmäßiger Schulunterricht statt. Die Auswirkungen, gerade auf Kinder im Grundschulalter, sind vernichtend. Auch bei uns ist das so, wenn wir uns den derzeitigen Stand der Lese-, Rechen- und Schreibfähigkeit anschauen.

In welchen Bereichen zeigt sich der Einfluss des russischen Angriffskriegs in der Ukraine?
Nicht nur dieser Krieg, auch andere Krisen und kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit verhindern, dass die Ziele erreicht werden können. Der russische Angriffskrieg hat die Lebenshaltungskosten in vielen Teilen der Welt stark beeinflusst, vor allem mit Blick auf die Energiepreise, die Nahrungsmittelpreise, den Getreidehandel und die Kosten für Düngemittel. Eine weitere drastische Folge sieht man in den massiven Schwierigkeiten, die die internationale Gemeinschaft nun hat, um sich überhaupt noch auf gemeinsame Aktivitäten zu einigen. Russlands Blockade des Sicherheitsrats ist da nur ein Beispiel.

Aber auch lang anhaltende Bürgerkriege sind mit enormen Kosten verbunden. Wir zeigen im Bericht eine Modellierung, die konkret berechnet, wie der Krieg im Jemen dafür sorgt, dass dort die Ziele massiv verfehlt werden. Mit jedem Jahr, den der Krieg andauert, entfernt sich das Land immer weiter von der Null-Linie der SDGs, steht also immer schlechter da.

Ist es überhaupt noch möglich, die Ziele bis 2030 zu erreichen?
Letzten Endes ist die Agenda 2030 eine politische Zukunftserzählung, auf die wir hinarbeiten. Dass wir nun nicht genug auf Kurs sind, heißt ja nicht, dass die Ziele nicht nach wie vor erreicht werden sollten. Alle Ziele zusammen sollen eine bessere Welt gestalten, in der soziale, ökologische und wirtschaftliche Aspekte gleichermaßen in den Blick genommen werden. Das ist insgesamt anspruchsvoll. Es ist wichtig, weiterhin Unterstützung dafür zu mobilisieren, dass dieses positive Zukunftsbild Realität werden kann. Dafür braucht es politischen Willen und Überzeugungskraft und eben auch die Bereitschaft, finanziell mehr zu tun.

Ich bin trotz allem der Meinung, dass es wenig bringt, immer nur auf die Krisen und negativen Entwicklungen zu blicken. Es geht darum, aus den derzeitigen Zahlen die richtigen Schlüsse zu ziehen und die internationalen Handlungsmöglichkeiten, die wir haben, positiv zu nutzen.

Was müsste Ihrer Ansicht nach am dringendsten geschehen, um weltweit wieder auf Kurs zu kommen?
Unser wichtigster Vorschlag sind systemische Interventionen. Also Maßnahmen, die mehrere Ziele gleichzeitig befördern. Wenn wir weiterhin nur einzelne Ziele mit einer Politik der kleinen Schritte verfolgen, werden die SDGs selbst bis zum Jahr 2050 nicht erreicht sein. Aber mit wirklich ambitionierten Maßnahmen könnten wir den Zielen auch jetzt noch bis 2030 sehr viel näherkommen. Ein Beispiel sind die Subventionen für fossile Energieträger. Die müssten dringend abgebaut werden, schließlich fördern sie eine Energieproduktion, die den 17 Zielen entgegenarbeitet. Würden diese Subventionen wegfallen, könnten die frei gewordenen öffentlichen Mittel in alternative, nachhaltige Infrastrukturen investiert werden.

Die gleiche Logik sehe ich bei CO2-Abgaben. Gäbe es angemessen hohe CO2-Preise, dann würde dies Einnahmen generieren, die für die Energiewende genutzt werden können. Gibt man einen Teil dieser Mittel an Niedrigeinkommensländer weiter, durch einen globalen Transfermechanismus, könnten dort soziale Sicherungssysteme, Gesundheitsversorgung und Bildung finanziert werden. Das hätte wiederum positive Auswirkungen auf die Armutsbekämpfung.

Welche weiteren Maßnahmen empfehlen Sie in dem Bericht zur Umsetzung der Ziele?
Wegen der hohen Verschuldung von vielen Ländern des Globalen Südens wäre ein Schuldenerlass dringend nötig. Viele Länder mussten sich verschulden, um die Auswirkungen der Corona-Pandemie abzufedern. Europa hat das zwar auch gemacht, aber zu erheblich besseren finanziellen Bedingungen am Markt. Und jetzt haben wir 60 hoch verschuldete Länder, denen das Wasser bis zum Hals steht. Ich denke, ein Schuldenerlass ist die einzige Möglichkeit, damit in diesen Ländern überhaupt über Transformation nachgedacht werden kann. Länder mit mittlerem Einkommen brauchen zumindest eine Schuldenumstrukturierung.

Eine weitere Maßnahme, die wir im Bericht hervorgehoben haben, ist ganz grundsätzlich, die Rechte von Frauen zu stärken. Wenn Frauen ökonomisch und rechtlich gestärkt sind, dann wirkt sich das positiv auf viele Ziele aus, das belegen mehrere Studien. Denn die rechtliche Gleichstellung von Frauen würde nicht nur bedeuten, dass gegen geschlechtsbasierte Gewalt vorgegangen wird. Es heißt vor allem auch, dass sie Zugang zum Bildungs- und Arbeitsmarkt haben. Wenn sie selbstbestimmt ein Einkommen generieren können, dann entscheiden sich Frauen in der Regel dafür, ihre Kinder zu fördern, also in die Zukunft zu investieren. Das hat massive positive Auswirkungen auf die Gesellschaften.

Gleichzeitig braucht es dringend langfristig angelegte Strategien, die auf die positiven Wechselwirkungen zwischen Politikfeldern setzen, um voran zu kommen. Strategien, die nicht nur die Perspektive einer vierjährigen Legislaturperiode im Blick haben. Wir brauchen offensive Kooperation zwischen Ministerien. Die Krisen unserer Gegenwart haben vielfältige Ursachen, darum müssen wir für deren Lösung klimapolitische, wirtschaftspolitische und arbeitsmarktpolitische Argumente zusammendenken.

Das klingt sehr ambitioniert …
Ja, das ist sehr ambitioniert. Aber ich finde, es ist eine positive Lesart, sich auf die konstruktiven Aufgaben zu konzentrieren, die sich aus der eher düster aussehenden Halbzeitbilanz ergeben.

 

Dr. Imme Scholz ist seit 2022 Ko-Vorständin der Heinrich- Böll-Stiftung und war von 2019 bis 2023 Ko-Vorsitzende der unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die von den UN beauftragt sind, den zweiten Bericht zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung vorzulegen.

Das Interview erschien in der Eine-Welt-Presse "17 Ziele für nachhaltige Entwicklung: Können sie bis 2030 erreicht werden?"

Das könnte Sie auch interessieren