Debatte: Die Vereinten Nationen der Zukunft: Multilateralismus auf Augenhöhe
Die Gründung der Vereinten Nationen (UN) und das Ende des Zweiten Weltkrieges liegen nicht zufällig im gleichen Jahr. Gegründet 1945 als Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkriegs und das Versagen des Völkerbundes haben die UN in den vergangenen fast 79 Jahren eine entscheidende Rolle bei der Wahrung des Weltfriedens und der Förderung internationaler Zusammenarbeit gespielt. Nicht alles ist in diesen Jahren gelungen: Die schrecklichen Völkermorde in Ruanda, in Srebrenica, Kriege, die auch in den letzten 79 Jahren den Globus heimgesucht haben, konnten von den Vereinten Nationen nicht verhindert werden. Dennoch haben die UN gerade während der Zeit des Kalten Krieges dafür gesorgt, dass die Großmächte der Welt zumindest an einen Tisch kamen, dass miteinander gesprochen und gerungen wurde und dass durch die Institutionen der Vereinten Nationen auch die Sorge um die globale Friedensordnung immer eine Stimme hatte. Das kommt aus einer ganz einfachen Erkenntnis: dass die Welt nicht durch ein Nullsummenspiel bestimmt wird, bei dem die einen gewinnen, wenn die anderen verlieren, sondern dass das, was zählt, Kooperation und Zusammenarbeit sind. Das war in den letzten 79 Jahren wichtig, und das wird auch in den nächsten Jahrzehnten wichtig für die gemeinsame Weltordnung sein.
Trotz unbestreitbarer Erfolge sieht sich die Organisation heute mit enormen Herausforderungen konfrontiert, die ihre Effektivität und folglich ihre Relevanz in Frage stellen. Die Vereinten Nationen stehen an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Bald 80 Jahre ihres Bestehens bedeuten gleichzeitig auch beinah 80 Jahre Weltgeschehen, multilaterale Zusammenarbeit wie auch globale Konflikte und politische Spannungen, neue Allianzen und Interessen. Deswegen muss in den nächsten Jahren der Fokus darauf gerichtet werden, dass die bestehenden Institutionen und die UN in ihren Grundfesten verbessert werden.
Handlungsfähigkeit durch Reformen in einer sich wandelnden Welt
Moderne UN, UN der Zukunft, müssen sich deshalb den globalen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellen: Es geht um die Fragen der Sicherheitsordnung, Konfliktprävention und Friedenssicherung, die Bewältigung von Pandemien und Gesundheitskrisen, des Klimawandels und der Einhaltung des Klimaübereinkommens von Paris, die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, der Umgang mit den daraus resultierenden Migrationsbewegungen und Flüchtlingskrisen und nicht zuletzt des Umgangs und der Regulierung neuer Technologien wie KI (Künstliche Intelligenz). Es geht aber auch um das, was uns innerlich bewegt: die Geltung des Völkerrechts, vor allen Dingen aber auch die Geltung der Menschenrechte – das, was menschliches Dasein überall ausmacht. Menschenwürde, Meinungs- und Religionsfreiheit, körperliche Unversehrtheit sind universale Menschenrechte, und diese müssen überall auf der Welt gelten. Auch wenn dies nicht überall der Fall ist, muss es unser Ziel sein, dass die Vereinten Nationen ihren Beitrag dazu leisten, dass diese Werte verwirklicht werden; überall und kompromisslos. Die Themenvielfalt der Aufgaben erfordert eine koordinierte internationale Anstrengung.
Um diese Aufgaben effektiv anzugehen, ist eine Verbesserung der internen Strukturen und Arbeitsweisen der UN zwingend notwendig. Die Stärkung des Völkerrechts und der Durchsetzungsmechanismen wird der unumgängliche Schritt sein, um die UN in ihrer Handlungsfähigkeit zu stärken. Die Strukturen, die Finanzierung und Arbeitsweisen der UN müssen zwangsläufig an die sich verändernden globalen Realitäten angepasst werden und durch Reformen repräsentativer und effizienter werden.
Der Weg zu mehr Repräsentation im UN-Sicherheitsrat
Eine der dringlichsten Aufgaben ist sicherlich die so häufig angemahnte Reform des UN-Sicherheitsrats. Seine aktuelle Struktur mit fünf ständigen Mitgliedern spiegelt die Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg wider und wird zunehmend als undemokratisch und zurecht als nicht ausreichend repräsentativ kritisiert. Es geht um die Aufgabe der Blockaden im UN-Sicherheitsrat, welche oft dazu führen, dass die Vereinten Nationen dort nicht handlungsfähig sind, wo sie eigentlich handlungsfähig sein müssten; wie in Syrien oder der Ukraine.
Die Umsetzung etwaiger Reformen erfordert breite Zustimmung der UN-Mitgliedstaaten, einschließlich der derzeitigen ständigen Mitglieder. Die Herausforderung besteht darin, einen Konsens zu finden, der sowohl die Interessen der mächtigeren Staaten als auch die Bedürfnisse der weniger mächtigen Mitglieder berücksichtigt.
Man wird und man sollte daher nicht um die Erweiterung der Mitgliedschaft herumkommen. Sie muss das vorrangige Ziel verfolgen, eine bessere geografische Repräsentation zu gewährleisten. 80 Prozent der 8 Milliarden Menschen leben in Ländern des Globalen Südens, die zu 95 Prozent für das gesamte Wachstum und die Entwicklung der Weltbevölkerung verantwortlich sind. Bis auf China findet sich kein weiteres Land dieser besagten 80 Prozent als Vollmitglied im Sicherheitsrat wieder. Kandidaten für neue ständige Sitze sollten folglich neben Ländern wie Deutschland und Japan auch ausdrücklich Vertreter des Globalen Südens wie Indien, Brasilien und Staaten Afrikas sein. Eine Erhöhung der Anzahl der nicht-ständigen Mitglieder wäre nur konsequent. Die damit einhergehende geografische (faire) Repräsentation aller Weltregionen, insbesondere auch Afrikas und Lateinamerikas, vermag die Legitimität und Akzeptanz der Entscheidungen des Sicherheitsrats nachhaltig erhöhen. Dies könnte durch die Einführung von Sitzen nach regionalen Quoten erreicht werden.
Ferner fungiert das Veto-Recht der ständigen Mitglieder oft als Hindernis für effektive Maßnahmen. Einiges hätte erreicht, vieles verhindert werden können, wäre das Veto-Recht in seiner Form anders ausgestaltet. Eine Reform könnte beispielsweise vorsehen, das Veto-Recht nur in bestimmten Fällen anzuwenden, z.B. bei akuten Bedrohungen des Weltfriedens, oder eine Beschränkung der Anzahl der Vetos pro Jahr und Land einzuführen. Ebenfalls zu diskutieren wären konsultative Vetos. Ein System, bei dem Vetos zunächst konsultiert und diskutiert werden müssen, bevor sie wirksam werden, um eine Kompromissfindung zu fördern. Dies wäre einen UN angemessen, die sich als multilaterales Gesprächsforum auf Augenhöhe verstehen wollen.
Man könnte beinah polemisch formulieren, dass der Sicherheitsrat den Sprung in das 21. Jahrhundert wagen muss: mit einer Anpassung der Agenda des Sicherheitsrats an die modernen Sicherheitsbedrohungen wie Terrorismus, Cyberkriminalität und Klimawandel. Mit einer stärkeren Einbeziehung von nichtstaatlichen Akteuren, der Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen in seine Entscheidungsprozesse.
Die UN im Spannungsfeld der Interessen
Die zunehmende Multipolarität und der Aufstieg neuer Mächte stellen die UN vor die Herausforderung, zwischen divergierenden Interessen zu vermitteln. Gleichzeitig bietet sich die Chance, die internationale Zusammenarbeit auf eine breitere Basis zu stellen. Die Zeit zu handeln ist jetzt.
Insgesamt muss es darum gehen, dass die Vereinten Nationen die Interessen auf der Welt bündeln, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern der Anspruch auf Zusammenarbeit und auf eine friedliche Welt.
Wir haben beinahe 79 Jahre erreicht, die Grundprinzipien der UN, Frieden, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit, zu bewahren und wir wollen daran arbeiten, dass dies so bleibt. Nur so kann die Organisation ihrer Rolle als Garant für eine friedliche und nachhaltige Weltordnung auch in Zukunft gerecht werden.
Dr. Volker Ullrich, MdB