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Debatte: Deutschlands Engagement in der UN-Entwicklungspolitik: Erwartungen an eine Mittelmacht

Als Mittelmacht hat Deutschland ein starkes Interesse an den Vereinten Nationen. Um die UN nicht bedeutungslos werden zu lassen, sollte sich Deutschland für ein gleichberechtigtes, multilaterales System einsetzen. Das erfordert eine strategischere und politischere UN-Politik. Von Max-Otto Baumann.

Ein Setzling in einer Pfütze.
UN Photo/Nektarios Markogiannis

Deutschland sei den Vereinten Nationen (UN) beigetreten, so damals Willy Brandt vor der UN-Generalversammlung, um „auf der Grundlage unserer Überzeugungen und im Rahmen unserer Möglichkeiten […] weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen.“ Wird Deutschland 50 Jahre später diesem Anspruch gerecht? So grob scheinen die Parameter zu stimmen: Im Bereich der nachhaltigen Entwicklung, um den es hier gehen soll, ist Deutschland zum zweitgrößten Beitragszahler der UN avanciert nach den USA. Im Global Governance Index des Stimson Centers führt Deutschland das Ranking an, was neben den finanziellen Beiträgen auch auf die Mitgliedschaften in multilateralen Arrangements zurückgeht. Viel sagt dies aber nicht über das deutsche multilaterale Engagement in der UN aus, das sich nur unzureichend über Finanzströme und formale Mitgliedschaften messen lässt.  

Ein näherer Blick darauf, wie Deutschland die UN-Politik im Bereich nachhaltige Entwicklung bespielt, liefert ein ambivalentes Bild. Zum einen hat Deutschland in den letzten Jahren Impulse gesetzt: 2016 wurde auf deutsche Initiative eine Beratergruppe eingesetzt, um die Reform des UN-Entwicklungssystems zu unterstützen; Klaus Töpfer übernahm den Ko-Vorsitz. Unter der Ampel-Koalition hat ganz sichtbar eine Aufwertung des Multilateralen stattgefunden, es wurde eine neue multilaterale Strategie des BMZ verabschiedet. Bei der Reform der Weltbank, die eher am Rande des UN-Systems steht, spielt Deutschland eine wichtige Rolle. Derzeit ist Deutschland Verhandlungsführer für den UN-Zukunftsgipfel 2024 (zusammen mit Namibia), und dass man sich für diese Rolle gemeldet hat, mag auch etwas mit der nächsten Kandidatur für den Sicherheitsrat zu tun haben.

Zum anderen agiert Deutschland in den UN oft eher unauffällig, auch dort, wo es Initiativen ergreift. Eigene Positionen werden meist sehr zurückhaltend bezogen, formuliert und eingebracht. Auch im Kleinen der laufenden Mitarbeit in den Exekutivräten und in der Generalversammlung erscheint das deutsche UN-Engagement eher reaktiv. Die neue multilaterale Strategie des BMZ wirkt in Bezug auf die UN eher deskriptiv. Als Führungsmacht hat sich Deutschland bislang also nicht exponiert, jedenfalls nicht in der Art wie China, das mittlerweile einen klaren Führungsanspruch markiert hat und diesen auch systematisch verfolgt.

Mittelmacht und neuer geopolitischer Kontext

Deutschland ist freilich nicht China, das in der UN mit anderen Voraussetzungen antritt. Was heißt es daher für ein Land wie Deutschland, „weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen“? Was sind die Möglichkeiten, die es auszuschöpfen gilt, und deren Grenzen, die im Blick zu behalten sind? Konzeptionell kann Deutschland als Mittelmacht eingeordnet werden, und dabei eher am starken Ende des Spektrums. Als Mittelmacht bezeichnet man Staaten, die für eine globale Führungsrolle zu klein sind, die aber meist ein starkes, idealistisches Bekenntnis zum Multilateralismus haben. Aufgrund ihrer internationalen Vernetzung und damit einhergehenden Verwundbarkeiten sind sie dazu disponiert, ihre eigenen Interessen zusammen mit globalen Interessen zu denken. Sie können Dinge in Bewegung setzen – nicht durch machtpolitische Mittel, das ist verpönt, sondern durch Vermittlung, Expertise und finanzielle Ressourcen.

Das zunehmend multipolare internationale System stellt dabei neue Herausforderungen an Mittelmächte. Schon die Frage, was ein guter Multilateralismus ist, welche Regeln und Menschenrechte zentral sind, wird von einigen Ländern des globalen Südens, die sich heute selbstbewusster artikulieren als noch vor zehn Jahren, anders beantwortet. In dem Maße, wie die Großmächte in einen Antagonismus geraten, müssen Mittelmächte selbst Position beziehen und Verantwortung für das multilaterale System zu übernehmen. Es braucht daher tiefere und handlungsleitende Strategien – nicht nur dazu, wie man es wieder in den Sicherheitsrat schafft und Sichtbarkeiten generiert, sondern auch dazu, weshalb und wie das multilaterale System in schwierigen Zeiten zu unterstützen ist.

Einige Handlungsfelder

Dazu einige Beispiele. In der UN-Generalversammlung wird derzeit häufig fehlendes Vertrauen beklagt. Das von den meisten OECD-Ländern verfehlte 0,7%-Ziel, der fehlende Zugang von Entwicklungsländern zu Covid-Impfstoffen in der Pandemie, die als inkonsistent wahrgenommene Berufung auf das Völkerrecht im Ukraine- und Gaza-Konflikt – es gibt derzeit einiges, was die Entwicklungsländer dem Westen vorhalten. Mit Überraschung und Befremden registrieren westliche Diplomaten die lückenhafte Zustimmung in der Generalversammlung bei wichtigen Resolutionen etwa zum Ukraine-Konflikt. Russland und China unterstützen den globalen Süden, und besonders Afrika, um die Weltgemeinschaft zu teilen. Es muss jetzt neu darüber nachgedacht werden, wie Allianzen innerhalb und außerhalb der UN gebildet werden können und eine strategische Positionierung aussehen muss, welche die globale Glaubwürdigkeit des Westens wiederherstellt als Bedingung eines konstruktiven Miteinanders.

Der laufende Prozess um den Zukunftsgipfel 2024 ist dabei ein Test. Bezüglich der Reform der internationalen Finanzinstitutionen heißt die Devise westlicher Staaten, das System und den Einfluss darin zu bewahren. Kleinere Konzessionen – die Aufnahme der Afrikanische Union in die G20, einen dritten Sitz für Afrika im Exekutivdirektorium der Weltbank – sind kaum dazu geeignet, den politischen Druck durch den globalen Süden zu reduzieren. Da wundert es nicht, dass die Entwicklungsländer dem Zukunftsgipfel bislang skeptisch-ablehnend gegenüberstehen. Die bemerkenswerte Abstimmung zur Steuerresolution Ende November, mit welcher der Prozess für ein verbindliches internationales Rahmenwerk unter UN-Führung eingeleitet wird, zeigt, dass die Entwicklungsländer – in diesem Fall Afrika – bereit sind, das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen, und es zeigt ferner, wie die westlichen Staaten politisch und intellektuell bei der UN in die Defensive geraten sind. Auch Deutschland gehört bei diesem und anderen wirtschaftsbezogenen Themen, die für den globalen Süden zum Prüfstein für das multilaterale System gehören, zu den Bremsern (siehe den Beitrag von Jens Martens in dieser Blogserie).

Zurück bleibt eine Organisation, in der beide Seiten, der Norden und der Süden, häufig zeitraubend um Reizthemen streiten, während es an Kapazität und Vertrauen für kollektive Problemlösungen fehlt. Die UN wächst als Organisation nicht mehr politisch, sondern nur noch operativ als Implementierer für humanitäre Hilfe in Krisen (deren Prävention gescheitert ist) und eher kleinteilige Entwicklungsprojekte (die nicht besonders transformativ wirken). Das kann nicht im Interesse einer Mittelmacht sein. Sich für eine wirksame Global Governance in der bzw. durch die UN einzusetzen, sollte bedeuten, sich auf politisch schwierige Regel- und Standardsetzung einzulassen, statt die UN vorwiegend als Vehikel oder „Partner“ für den Nord-Süd-Transfer von Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit zu sehen.

Unter finanziellen Gesichtspunkten immerhin gilt Deutschland bei den UN als verlässlicher Partner. Es kursiert aber auch der Eindruck in New York, dass Deutschland eben gerne einen Koffer Geld hinstellt und sich dann nicht weiter kümmert. Die zuletzt USD 5,6 Milliarden (2021) deutsche Beiträge für das UN-Entwicklungssystem sind recht weit verstreut und allein darum nicht besonders effektiv. Hier liegt Potential für einen strategischeren Einsatz der Mittel. Ein beachtenswertes Beispiel ist die geschickt eingefädelte Ansage bei der jüngsten COP in Dubai, zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten jeweils USD 100 Millionen für den neuen Loss and Damage Fund bereitzustellen. Der Beitrag der Vereinigten Arabischen Emiraten durchbricht die im Klimabereich dogmatische Unterscheidung der 1990er-Jahre von Entwicklungs- und Verursacherländern und setzt andere wirtschaftlich starke Nationen wie China unter Druck, mehr finanzielle Verantwortung zu übernehmen. Die deutschen Beiträge sollten mehr für solche Zwecke eingesetzt werden, in denen sich die Unterstützung der UN mit politischen Zielen verbindet.

UN-Entwicklungspolitik größer denken

Brandt sagte damals auch den Satz: „Die großen Gefahren für die Menschheit gehen von den großen Mächten aus und nicht von den kleinen“. Damals waren das die Kernwaffen-Staaten, heute stellen die wirtschaftlich starken Ländern, zu denen auch die Mittelmächte gehören, die größte Belastung für die planetaren Grenzen und die Entwicklungschancen ärmerer Länder dar. Das erfordert von den Mittelmächten Selbstreflexion und die Bereitschaft, ein multilaterales System zu formen, in dem eine gleichberechtigte globale Kooperation mit gegenseitiger Rechenschaftspflicht möglich werden. Eine UN-Entwicklungspolitik für die Entwicklungsländer hat keine Zukunft, es bedarf einer globalen Nachhaltigkeitspolitik mit den Ländern des globalen Südens (auch der Begriff „Entwicklungsland“ gehört eigentlich abgeschafft). Vor dem Hintergrund dieser neuen Problemdefinition sollte sich die UN-Politik der Mittelmächte anpassen und insgesamt politischer und strategisch weitsichtiger werden.

von Max-Otto Baumann, IDOS