Debatte: Dekolonialisierung der globalen Finanzarchitektur
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Charta der Vereinten Nationen (UN) am 24. Oktober 1945 hatten viele europäische Staaten über ihre Kolonialreiche großen politischen Einfluss auf dem afrikanischen, amerikanischen und asiatischen Kontinent. Erst einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine umfassende Phase der Entkolonialisierung. Als 1960 im „Jahr Afrikas“ 17 afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erlangten, war das heutige internationale Finanzsystem schon etabliert.
Das ‘Bretton-Woods-System’ wurde zwar mit Blick auf die Globalisierung und wirtschaftliche Verflechtung angepasst, dennoch zementierte es die Macht der ehemaligen Kolonialmächte. Die Entscheidungsstrukturen innerhalb der Bretton-Woods-Institutionen, dem Internationalen Währungsfonds (International Monetary Fund - IMF) und der Weltbank, wurden so gestaltet, dass die reichen westlichen Länder überproportionalen Einfluss hatten. Zum Beispiel basierte die Stimmenverteilung in diesen Institutionen auf finanziellen Beiträgen, was den wohlhabenden Ländern mehr Entscheidungsgewalt verlieh. Durch die wirtschaftspolitischen Vorgaben des IMF und der Weltbank wurden oft wirtschaftliche Strukturen und Handelsmuster aus der Kolonialzeit beibehalten, zum Beispiel hinsichtlich der Orientierung vieler Länder des Globalen Südens auf den Export von Rohstoffen. Durch diese internationalen Finanzstrukturen blieb die wirtschaftliche Abhängigkeit der ehemaligen Kolonien bestehen und erschwerte die Entwicklung der Länder des Globalen Südens. Zwar gab es seitdem einige Reformen. Trotz des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems in den 1970er wurde jedoch die Dominanz westlicher Industriestaaten in internationalen Finanzinstitutionen zementiert, etwa durch ungleiche Handelsbeziehungen und die Abhängigkeit der sogenannten Entwicklungsländer von externer Finanzierung.
Gibt es eine Chance zur Transformation?
Um eine gerechtere und nachhaltigere Finanzarchitektur zu schaffen, bedarf es einer Stärkung der institutionellen Kompetenzen der Vereinten Nationen. Hier kann der UN-Zukunftsgipfel (Summit of the Future) eine Chance sein, überfällige Reformen anzustoßen.
Der Zukunftsgipfel verfolgt das Ziel „die Lücken im bestehenden multilateralen System zu benennen und Empfehlungen für Zukunftslösungen zu geben“. Dabei ist die globale Finanzarchitektur (GFA) ein zentraler Schwerpunkt. Dazu erklärte UN-Generalsekretär António Guterres, dass die GFA „in ihrer Aufgabe, ein globales Sicherheitsnetz für die Entwicklungsländer zu schaffen, gescheitert ist“. „Fast 80 Jahre später ist die globale Finanzarchitektur überholt, dysfunktional und ungerecht“, schlussfolgerte er beim Gipfel für einen neuen globalen Finanzierungspakt (Summit for a New Global Financing Pact) in Paris im Juni 2023. Der Zukunftsgipfel bietet nun eine Chance, Institutionen und Strukturen zeitgemäß zu gestalten und besser auf aktuelle Herausforderungen wie die Bekämpfung der Klimakrise und der globalen Ungleichheit auszurichten.
Diese Entwicklung innerhalb der UN verläuft parallel zu Bemühungen, die koloniale Vergangenheit aufzuarbeiten und die Kontinuitäten des Kolonialismus zu überwinden. Beispielsweise sprach Charles III., der britische König, mit Blick auf den Kolonialismus von „Untaten der Vergangenheit“ und äußerte sein „tiefstes Bedauern“ und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bat in Tansania um Verzeihung für deutsche Kolonialverbrechen. Zudem sagte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kürzlich, dass afrikanische Länder zu Recht eine größere Rolle in internationalen Organisationen forderten und die Bundesregierung das mit aller Kraft unterstützen sollte, da „unsere gemeinsamen Regeln am besten tragen, wenn sie auf Strukturen gebaut sind, die unsere Welt von heute abbilden.“ Es scheint, als führte die nun breiter einsetzende Aufarbeitung des Kolonialismus dazu, dass endlich auch die kolonialen Kontinuitäten der GFA vom Globalen Norden hinterfragt werden.
Die globale Finanzarchitektur und die Rolle der UN
Die GFA erfuhr 1944 mit der Schaffung des Bretton-Woods-Systems und der Gründung von Weltbank und IMF eine tiefgreifende Neuordnung. Die GFA weist aber bereits in ihrer Grundstruktur, die von und für die reichsten Länder geschaffen wurde, erhebliche Mängel auf. Im Laufe der Jahre hat sie sich weiterentwickelt, oft in einer unausgereiften Weise, getrieben von den politischen Interessen des Globalen Nordens und als übereilte Reaktion auf Krisen. Sie ist kein holistisches System, sondern ein Geflecht internationaler Finanzregeln, -institutionen und -märkte. Dieses komplexe Konstrukt umfasst öffentliche internationale Finanzinstitutionen, wie die Weltbankgruppe und den IMF, Finanzorganisationen wie die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIS), die Standards für das private Finanzsystem setzen sowie informelle Ländergruppen wie die G7 und G20, die Normen festlegen. Es gibt auch formale, aber nicht universelle Gruppen wie die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und Kreditgebergruppen, die sich mit Staatsschulden befassen. Die UN fungieren in diesem Konstrukt als Norm- und Umsetzer.
Die Grundidee der GFA, die sich durch alle Anpassungen und Reformen zieht, steht zunehmend im Widerspruch zur Realität und den aktuellen globalen Herausforderungen. Die Struktur der GFA ist ungeeignet für eine Welt, die von der Klimakrise, extremer Ungleichheit und global vernetzten Finanzmärkten, die anfällig für transnationale Krisen sind, geprägt ist. Eine grundlegende Neugestaltung der GFA ist erforderlich, um eine stabile und langfristige Finanzierung in großem Umfang zu mobilisieren. Diese Neugestaltung muss Investitionen unterstützen, die notwendig sind, um die Klimakrise zu bekämpfen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals - SDGs) zu erreichen und die Menschenrechte für alle zu wahren. Nur durch eine solche Reform kann die internationale Finanzarchitektur tatsächlich den Bedürfnissen und Realitäten des 21. Jahrhunderts gerecht werden und insbesondere afrikanische Länder in die Lage versetzen, eine nachhaltige und gerechte Zukunft zu gestalten.
Die UN sind durch die Weltbankgruppe und IMF als UN-Sonderorganisationen Bestandteil der internationalen Finanzarchitektur. Über die Jahre gab es immer mehr Kritik an den Defiziten hinsichtlich der Legitimation, Effektivität, Repräsentation und Glaubwürdigkeit von IMF und Weltbank. Besonders enttäuschend war im Reformprozess gerade der Bereich, der für den Globalen Süden oberste Priorität hat: Die Neugestaltung der Governance-Strukturen und Abstimmungsverfahren. Dabei hatte sich der Globale Norden in der Agenda 2030 eigentlich verpflichtet „eine bessere Vertretung und verstärkte Mitsprache der Entwicklungsländer bei der Entscheidungsfindung“ in der GFA zu schaffen, um die „Wirksamkeit, Glaubwürdigkeit, Rechenschaftslegung und Legitimation“ zu erhöhen.
Die Länder des Globalen Südens sind mit den schweren strukturellen Defiziten der GFA konfrontiert, die ihre wirtschaftliche Souveränität schwächen und eine nachhaltige Entwicklung massiv erschweren. Die Governance-Strukturen der Weltbankgruppe und des IMF haben bisher nicht die Voraussetzung für eine echte Dekolonisierung afrikanischer Volkswirtschaften oder die Lösung externer Schuldenprobleme geschaffen. Der Washington Consensus hat strukturell die Grundlage für die immer wieder kehrenden externen Schuldenkrisen im Globalen Süden gelegt. Durch die Liberalisierung von Finanzdienstleistungen und das Forcieren von ausländischen Direktinvestitionen, wurden inländische Investitionen unterbunden und die Länder vulnerabel für spekulative Angriffe und Einflussnahme gemacht. Daher sollte der Zukunftsgipfel diese Defizite endlich angehen und die Weichen für eine modernere, fairere und postkoloniale Finanzarchitektur stellen.
Reformvorschläge für Zukunftsgipfel: Unternehmensbesteuerung, mehr Mitsprache und Repräsentation sowie Tech-Sharing
Multinationale Unternehmen nutzen Lücken und Unstimmigkeiten in nationalen Steuerrechten aus, um Gewinne in Niedrigsteuergebiete zu verlagern, Steuern zu vermeiden und zu hinterziehen. Zusätzlich machen Superreiche von der mangelnden Transparenz des internationalen Steuersystems Gebrauch, um einer gerechten Besteuerung zu entgehen. Eine effektive internationale Steuerkooperation ist unerlässlich, um das Funktionieren von nationalen Steuersystemen zu gewährleisten. Es braucht eine international abgestimmte Kooperation für die Unternehmensbesteuerung zusammen mit einer starken Erhöhung der Mindestbesteuerung von multinationalen Unternehmen, um Steuervermeidung und -hinterziehung sowie illegale Finanzströme zu bekämpfen. Damit kann verhindert werden, dass dringend benötigte Ressourcen aus Ländern abgezogen werden. Stattdessen können sie für Investitionen in nachhaltige Entwicklung genutzt werden.
Die wirtschaftlich größten Länder des Globalen Nordens haben eine De-facto-Vetomacht sowohl in der Weltbankgruppe als auch dem IMF und haben sich bisher, trotz wiederholter Zusicherungen, einer demokratischen und gerechten Reform dieser Institutionen widersetzt. Für eine solche Reform braucht es nicht nur Mitbestimmung und Repräsentation in den Institutionen zu Gunsten des Globalen Südens, sondern auch Änderungen der Governance und der Art, des Umfangs und des Zugangs zu Finanzmitteln. Das schließt Maßnahmen zur Bewältigung von Liquiditäts- und Schuldenproblemen, einen massiven Ausbau der Entwicklungsfinanzierung und die Mobilisierung von privatem Kapital zu Gunsten der Länder des Globalen Südens, anstelle von internationalen Unternehmen und Superreichen, ein.
Neben Reformen der Finanzarchitektur ist auch ein Umlenken bei der Wohlstandskonzentration des Globalen Nordens hin zu mehr Wissensaustausch, Patentfreigaben und gemeinsamer Nutzung von Technologien zur Bekämpfung der Klimakrise oder gefährlichen Pandemien eine wichtige Aufgabe. Denn die immer größer werdenden globalen Herausforderungen erfordern eine stärkere Kooperation. Jedoch ist die Forschungszusammenarbeit zwischen Nord und Süd weiterhin von kolonialen Praktiken, Abhängigkeiten und Marginalisierung geprägt. Während der Coronapandemie hätte der Globale Norden mit der Freigabe von Patenten die Impfstoffproduktion in afrikanischen Staaten ankurbeln und den Tod vieler Menschen verhindern können. Mit einer Patentfreigabe hätte die Weltgemeinschaft Vertrauen zwischen den Ländern des Globalen Nordens und Südens aufbauen können. Da diese Chance vergeben wurde, sollte der Globale Norden, zum Beispiel zur Bekämpfung der Klimakrise, Wissen und Technologien zur Verfügung stellen. Schließlich sollten die UN-Mitgliedsstaaten beim Zukunftsgipfel die Dekolonialisierung des Finanz- und Wirtschaftssystems voranbringen und mit ambitionierten Reformen das Vertrauen in multilaterale Lösungen wiederherstellen.
Das ist nicht zuletzt auch eine wichtige Chance, Autokraten die Stirn zu bieten, die wieder zurück zum Recht des Stärkeren wollen. Sie nutzen die (teils berechtigte) Unzufriedenheit in den Ländern des Globalen Südens mit dem jetzigen multilateralen System dazu, die humanistische Idee der Vereinten Nationen zu Grabe zu tragen. Es ist im Interesse von Demokratinnen und Demokraten weltweit, eine auf Kooperation und Gerechtigkeit aufbauende Weltordnung zu festigen. Es gilt, ein multilaterales System zu bauen, das seinen eigenen Werten gerecht wird.
Jamila Schäfer, MdB