Weltbevölkerungsbericht 2024: Gemischte Bilanz dreißig Jahre nach Kairo
Seit der Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) von 1994 ist nach den UN-Daten der Anteil ungewollter Schwangerschaften um fast 20 Prozent gesunken. Doppelt so viele Frauen verwenden heute moderne Verhütungsmethoden und mindestens 162 Länder haben Gesetze gegen häusliche Gewalt erlassen. Die Müttersterblichkeit ist seit dem Jahr 2000 um 34 Prozent zurückgegangen.
Doch der Weltbevölkerungsbericht weist auch darauf hin, dass die Müttersterblichkeit zwischen 2016 und 2020 im globalen Durchschnitt kaum noch reduziert wurde. Erschwerend kam die Corona-Pandemie hinzu, deren negative Folgen auf die Ziele von Kairo bislang noch nicht ausreichend erfasst sind. Unter dem Titel „Verwobene Leben, Fäden der Hoffnung“ zeigt der neue Bericht, dass sich bei genauerer Betrachtung hinter den Durchschnittszahlen gravierende Unterschiede verbergen. Durch Rassismus, Sexismus und andere Formen von Diskriminierung würden einige Gruppen im Entwicklungsprozess abhängt.
Gravierende Benachteiligungen
So wird deutlich, dass vor allem Frauen und Mädchen, die arm sind und/oder ethnischen Minderheiten oder indigenen Bevölkerungsgruppen angehören, oft nicht rechtzeitig Zugang zu medizinischer Versorgung bekommen. Wenn es während einer Schwangerschaft oder Entbindung zu Komplikationen kommt, hat zum Beispiel eine Frau in Afrika ein im Durchschnitt etwa 130-mal höheres Risiko, daran zu sterben, als eine Frau in Europa und Nordamerika. Selbst innerhalb einzelner Länder sieht UNFPA enorme Disparitäten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, zum Teil auch unabhängig vom Einkommen.
Reproduktive Gesundheit in Krisen und Konflikten
Besonders unzureichend ist die Versorgungslage in Konflikt- und Krisensituationen. Das hat gravierende Folgen für Frauen und Mädchen. So dokumentiert UNFPA, dass in der 2023 vom Erdbeben betroffenen Region in der Türkei eine Zunahme ungewollter und Teenager-Schwangerschaften beobachtet wurde. Auch habe es Berichte über sexuellen Missbrauch und Nötigung gegeben. Auch wo Krieg herrscht, ist die Notversorgung im Gesundheitswesen kaum auf sexuelle und reproduktive Gesundheit ausgerichtet. In der Folge treten mehr als die Hälfte aller vermeidbaren Todesfälle bei Müttern in Ländern auf, die unter humanitären Krisen und Konflikten leiden.
Den Fokus neu ausrichten
Doch die globalen Erfolge in Hinblick auf sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte wurden in den vergangenen dreißig Jahren eher auf einfachen Wegen erzielt. Sie kamen denen zugute, die leicht zu erreichen waren. Versäumt wurde dabei oft, gesellschaftliche Ungleichheiten wirksam anzugehen. Nicht umsonst aber handelt es sich bei reproduktiven Rechten um universelle Rechte und nicht ohne Grund lautet ein zentrales Prinzip der Agenda 2030, auf dem Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung alle Menschen mitzunehmen und niemanden zurückzulassen oder gar abzuhängen.
Die Anliegen von Kairo wurden durch die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) von 2015 politisch noch einmal gestärkt. SDG 3 zu Gesundheit und SDG 5 zu Gleichstellung enthalten mehrere Zielvorgaben zu sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechten. Um diese Ziele für alle Menschen zu verwirklichen, muss der Fokus neu ausgerichtet werden. UNFPA drängt darauf, vorrangig die Situation derjenigen zu verbessern, die bislang am stärksten marginalisiert oder womöglich sogar ganz ausgeschlossen waren. Dazu gehören in vielen Fällen auch Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten ohne Papiere, LGBTQIA+-Personen oder HIV-Infizierte, deren Rechte und deren Versorgung im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit gezielte Aufmerksamkeit brauchen.
Neue Technologien sinnvoll nutzen
Es mag schwieriger sein, genau diejenigen zu erreichen, die auf vielfältige Weise benachteiligt sind, räumt UNFPA ein. Es brauche dafür besser aufgeschlüsselte Daten und deutlich mehr Anstrengungen. Wie es gelingen kann, wird im Weltbevölkerungsbericht anhand konkreter Beispiele für gut durchdachte Maßnahmen aufgezeigt, die auf die Bedürftigsten zugeschnitten sind und – was UNFPA besonders wichtig ist – die Betroffenen aktiv einbeziehen.
Besondere Wachsamkeit erfordern die neuen technologischen Möglichkeiten, die integrativ zur Verbesserung der Situation benachteiligter Gruppen eingesetzt werden können, ebenso aber auch missbraucht werden könnten, um auszugrenzen. In der Diagnostik wird zum Beispiel zunehmend künstliche Intelligenz eingesetzt. Solche Innovationen bergen auch Gefahrenpotenzial, warnt UNFPA, zum Beispiel in Hinblick auf Patientensicherheit und Privatsphäre. In der Reproduktionsmedizin bestehen ethische und menschenrechtliche Bedenken bezüglich einer Kommerzialisierung der menschlichen Fortpflanzung.
Investitionen zahlen sich aus
Der Weltbevölkerungsbericht liefert neben menschenrechtlichen auch gute wirtschaftliche Argumente für mehr Investitionen in die reproduktive Gesundheit und Selbstbestimmung. Können Frauen selbst entscheiden, wann sie Kinder bekommen wollen, wie viele und in welchen Abständen, haben sie die Möglichkeit, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen und ihre beruflichen Perspektiven zu verbessern – und damit ihre wirtschaftliche Situation. Dies wirkt sich auch volkswirtschaftlich positiv aus.
UNFPA zählt auf, welchen Nutzen 79 Milliarden Dollar hätten, die in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bis 2030 zusätzlich investiert würden – in Aufklärung, Verhütungsmittel, sichere Entbindungen, eine respektvolle Mutterschaftsbetreuung und andere wichtige Versorgungsleistungen im Bereich sexuelle und reproduktive Gesundheit: Es könnten damit 400 Millionen ungeplante Schwangerschaften vermieden werden und es könnte ein wirtschaftlicher Nutzen in Höhe von 660 Milliarden Dollar generiert werden.
Auch dass noch immer Tag für Tag etwa 800 Frauen bei der Entbindung sterben, lasse sich verhindern, mahnt UNFPA, und zitiert den 2023 im Alter von 88 Jahren verstorbenen „Vater“ der Bewegung für sichere Mutterschaft, Dr. Mahmoud Fathalla: „Die Mütter sterben nicht aufgrund von Krankheiten, die wir nicht behandeln können. Sie sterben, weil die Gesellschaft noch nicht die Entscheidung getroffen hat, dass es sich lohnt, ihre Leben zu retten.“
Von Christina Kamp
Weitere Informationen:
Weltbevölkerungsbericht 2024. Verwobene Leben, Fäden der Hoffnung. Ungleichheiten in der körperlichen Selbstbestimmung überwinden. Deutsche Kurzfassung. UNFPA/Deutsche Stiftung Weltbevölkerung (DSW), 2024.