Ausgrenzung und Gewalt – Wie die Taliban Frauen aus der Öffentlichkeit drängen
„Die Taliban-Führer in Afghanistan institutionalisieren in großem Umfang und systematisch geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen“, heißt es in einem vor Kurzem veröffentlichten Bericht, den ein unabhängiges Expertengremium für das Büro des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen (OHCHR) verfasst hat. Der Bericht beschreibt eine Reihe von restriktiven Maßnahmen, die seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan eingeführt wurden und auf eine „kollektive Bestrafung von Frauen und Mädchen“ hinauslaufen. Zeitgleich veröffentlichte Human Rights Watch (HRW) einen Bericht, der die Beobachtungen des OHCHR bestätigt und anhand zahlreicher Interviews mit betroffenen Frauen in Afghanistan illustriert. Die Berichte zeigen auch, dass die dramatische humanitäre Lage der afghanischen Bevölkerung nach dem Abzug westlicher Truppen und dem Einfrieren finanzieller Unterstützung Frauen, Kinder, ethnische Minderheitenund von Frauen geführte Haushalte besonders hart trifft.
Politische Verfolgung und Ausgrenzung von Frauen
Entgegen aller Beteuerungen der Taliban-Führung, dass sich das Maß der Ausgrenzung und Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen der 1990er-Jahre nicht wiederholen würde, zeigen das OHCHR und HRW einhellig, dass die Realität in Afghanistan das Gegenteil beweist. Die relative Eigenständigkeit, die Frauen und Mädchen vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 zumindest als Möglichkeit offenstand, wurde seitdem systematisch begrenzt.
Von der Minderheit derer abgesehen, die über Kontakte, doppelte Staatsbürgerschaft oder internationale Arbeitgeber verfügen oder als Ortskräfte das Land verlassen konnten, befindet sich ein Großteil der afghanischen Frauen und Mädchen in einer misslichen Lage: in der Arbeit, Bildung, Bewegungsfreiheit sowie persönlicher Selbstbestimmung werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt.
Gerade Frauen, die zuvor in öffentlichen oder zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie im Journalismus gearbeitet hatten, fürchten Repressionen der Taliban und sehen sich in ihrem eigenen Zuhause eingesperrt. Zu den Tausenden, die wegen ihrer offenen Opposition gegen die Taliban in Gefängnissen sitzen, kommt eine unbekannte Zahl von Frauen, die seit Monaten im Untergrund versuchen zu überleben. Eine anonyme afghanische Journalistinberichtete kürzlich aus ihrem Versteck für den Guardian, dass die Taliban Journalistinnen und deren Familien im ganzen Lang bedrohe und verfolge: „Ich habe schon mehr als hundert Nummern blockiert, aber sie benutzen immer neue. Sie schicken mir Voice-Nachrichten mit schrecklichen Drohungen, in denen sie ankündigen, welche schlimmen Dinge sie mir antun werden.“
Neben der direkten Verfolgung lässt sich der Umbau von Institutionen beobachten, deren ursprüngliches Ziel die Unterstützung von Frauen und besonders gefährdeten Gruppen war. So wurde das Ministerium für Frauenangelegenheiten geschlossen und durch das Ministerium für die „Verbreitung von Tugend und der Vorbeugung von Lastern“ ersetzt. Ebenso wurden auch jene institutionellen und rechtlichen Mechanismen abgeschafft, an die sich Opfer von geschlechter- basierter Gewalt wenden konnten.
Segregation und Diskriminierung in Arbeit und Bildung
Die einzigen Bereiche, die Frauen im öffentlichen Leben nicht vollständig versperrt wurden, sind der Bildungs- und Gesundheitssektor. Wer noch weiterhin als Krankenschwester und Lehrerin arbeiten kann, ist jedoch zugleich einer repressiven Segregation von Frauen und Männern sowie strengen Kleidungs- und Verhaltensvorschriften ausgesetzt, die die Gesprächspartnerinnen von HRW als demütigend und gewalttätig bezeichnen. Neben den Inspektionen durch die Taliban selbst, fürchten viele Frauen, dass ihr „Fehlverhalten“ von Kollegen oder Nachbarn gemeldet wird, sei es aus Sympathie mit den Taliban oder um sich selbst zu schützen. Neben der sozialen Ausgrenzung und direkten Gewalt verbreitet sich eine Atmosphäre des Misstrauens, welche das Gefühl der Isolation und Hoffnungslosigkeit weiter verstärkt.
Wer den Zugang zu Arbeit außerhalb des eigenen Zuhauses nicht verloren hat, kann sich zudem nicht darauf verlassen, bezahlt zu werden. Manche warten schon seit Monaten auf ihr Gehalt. Die meisten Frauen scheinen indes zuhause isoliert zu sein. Viele versuchen durch häusliche Handarbeit ein wenig Geld zu verdienen, um die Familie zu ernähren.
Öffentliche Verkehrsmittel sind Frauen, die ohne männliche Begleitung aus der Familie (mahram)unterwegs sind, kaum mehr zugänglich. Laut HRW wurden auch Taxifahrer in den Städten angewiesen, Frauen ohne männlich Begleitung nicht mitzunehmen. Den Zugang zu Information und Technologie versuchen die Taliban für Frauen zu beschränken, in dem sie Frauen unter Druck setzen, nur noch alte Mobiltelefone zu benutzen.
Zudem wird Frauen und Mädchen der Zugang zu Sekundar- und Hochschulbildung verwehrt. In 27 der 34 Provinzen Afghanistans haben die Taliban das Betreiben von weiterführenden Schulen verboten. Universitätsstudentinnen konnten ihre Kurse seit August nicht wiederaufnehmen und für Mädchen sind nur die Grundschulen bis zur sechsten Klasse offen. Eine Lehrerin berichtet, dass dies die psychische Gesundheit der Mädchen stark beeinträchtige: „Sie machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Wenn sie sehen, dass die älteren Mädchen nicht zur Schule gehen, verlieren sie den Mut.“
So schwindet für viele Frauen und Mädchen mit jedem Tag die Hoffnung, ihrer von den Taliban festgelegten, marginalisierten und unterdrückten Rolle entfliehen zu können.
Humanitäre Krise und die Arbeit der UN
Bevor die Taliban die Macht ergriffen, stammten etwa 75 Prozent des Regierungshaushalts von ausländischen Gebern. Die meisten dieser Geber stellten ihre Hilfe für Regierungsbehörden seitdem ein. Die von den Taliban kontrollierte afghanische Zentralbank ist vom internationalen Bankensystem abgeschnitten und hat keinen Zugang zu den Devisenreserven des Landes. Zugleich steigen die Preise grundlegender Güter und Lebensmittel rasant an, während die Einkommen sinken. Das UN-Welternährungsprogram warnte bereits im November 2021 vor einer sich verschärfenden Lebensmittelkrise. Laut Angaben des UN-Amtes für die Koordination humanitärer Angelegenheiten hat Afghanistan derzeit weltweit die höchste Anzahl von Menschen, die sich in akuter Ernährungsunsicherheit befinden: 24,4 Millionen, mehr als die Hälfte der Bevölkerung. 4,4 Milliarden Dollar werden benötigt, um den grundlegenden Bedarf für 2022 abzudecken.
Eine Resolution des Sicherheitsrates vom Dezember 2021 stellte klar, dass humanitäre Hilfe nicht gegen bestehende Sanktionen verstoßen würde. Auf dieser Basis koordiniert die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) die humanitäre Hilfe, steht in Kontakt zur Zivilgesellschaft, den afghanischen Nachbarländern sowie den Taliban. In einer Lagebeurteilung fürden UN-Sicherheitsrat empfiehlt Generalsekretär Guterres den Umbau und Fortgang von UNAMA und betonte erneut seine Forderung an die Taliban, „sofortige Maßnahmen zu ergreifen, um zu gewährleisten, dass afghanische Frauen in der Lage sind ihre Rechte und Freiheiten uneingeschränkt wahrnehmen können.“
Von Wasil Schauseil