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Wir schaffen uns ab, ganz demokratisch: Plädoyer für eine lebensfreundliche Demokratie

Am 15. September eines jeden Jahres begehen die Vereinten Nationen den „Internationalen Tag der Demokratie“. Ein passender Anlass, um ernüchtert festzustellen: Trotz Demokratie setzen wir als Gesellschaft seit Jahrzehnten eine friedliche und stabile Zukunft aufs Spiel. Besonders bei komplexen Bedrohungen, wie zum Beispiel dem Klimawandel, lädt die Demokratie dazu ein, Probleme aufzuschieben anstatt sie zu lösen. Die Transformation zur Nachhaltigkeit gelingt nur, wenn wir unsere Demokratie ändern, schreibt Okka Lou Mathis vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik .

Auszählung einer Wahl in Timor-Leste (© UN Photo/Martine Perret)
Auszählung einer Wahl in Timor-Leste (UN Photo/Martine Perret)

Bonn, 15. September 2017. Am 15. September eines jeden Jahres begehen die Vereinten Nationen den „Internationalen Tag der Demokratie“. 2017 steht dieser Tag unter dem Motto Konfliktvermeidung, also des Beitrags demokratischer Institutionen zu Frieden und Stabilität.

Wie die meisten Menschen in Europa können wir uns in Deutschland glücklich schätzen, in einem politischen System zu leben, in dem die Menschenrechte und bürgerliche Grundrechte eingeklagt und individuelle Freiheiten ausgelebt werden können. Unsere politischen Institutionen fördern die gewaltfreie Auseinandersetzung bei Konflikten: Eine zentrale Bedingung für Frieden und Stabilität.

Doch es ist ein Irrtum zu glauben, wir könnten uns auf diesen Errungenschaften ausruhen. Denn trotz Demokratie setzen wir seit Jahrzehnten eine friedliche und stabile Zukunft aufs Spiel: Der Klimawandel schreitet ungebremst fort, zerstört Leben und Lebensgrundlagen und wird in Zukunft weitere Konflikte befeuern. Konflikte um Ressourcen, ums Überleben, nicht nur anderswo – auch hier bei uns. Wir wissen das seit Langem und tun doch nicht genug. Denn unsere Demokratie lädt dazu ein, das Klimaproblem aufzuschieben anstatt es zu lösen.

Mitverantwortlich für dieses Dilemma ist eine strukturell verankerte politische Kurzsichtigkeit. Diese äußert sich in den Interessen von Wählerinnen, aber genauso in den Versprechen und Entscheidungen von Politikerinnen oder Parteien, die vor allem kurzfristig einlösbare Versprechen ankündigen. In einer repräsentativen Demokratie sind das zwei Seiten derselben Medaille. Viel zu oft gewinnen daher – allem Wissen aus Forschung und längst spürbarer katastrophaler Auswirkungen unseres Lebensstils zum Trotz – Bequemlichkeit, mangelnde Aufklärung und Machtstreben gegen strategisch kluge Nachhaltigkeitsentscheidungen.

Auch so ist zu erklären, dass wir in Deutschland und weltweit immer noch an der für das Klima so gefährlichen Kohleindustrie festhalten, Autos mit Verbrennungsmotoren fahren oder weiterhin Unmengen von Fleisch konsumieren. Und das, obwohl Wählerinnen wie Politikerinnen meist genau wissen, dass die Kosten für ihre kurzsichtigen Interessen von Menschen in anderen Ländern, ihren Kindern und Enkelinnen oder sogar ihnen selbst getragen werden. Die Deutschen mögen umweltbewusst sein, doch die Wahlergebnisse der letzten Jahre sprechen für ein weiter so. Wie könnten da die gewählten Volksvertreterinnen mutig für den erforderlichen Umbau zur Nachhaltigkeit stimmen, selbst wenn sie wollten? Das ist unverantwortlich, aber demokratisch legitimiert.

Zwar beschreibt Demokratie vor allen Dingen Prozesse zur politischen Entscheidungsfindung und nicht bestimmte Politikinhalte, solange diese verfassungskonform sind. Was aber, wenn die so entstandene Politik unsere ökologischen Lebensgrundlagen systematisch untergräbt; uns und künftigen Generationen den sprichwörtlichen Ast absägt, auf dem wir sitzen? Ein solches System ist lebensbedrohlich.

Dies ist kein Plädoyer gegen Demokratie - im Gegenteil: Es ist eine Aufforderung an alle Demokratinnen, den 15. September zum Anlass zu nehmen, um eine Diskussion über die Weiterentwicklung unseres politischen Systems in Gang zu bringen. Eine zukunftstaugliche Demokratie muss die Transformation zur Nachhaltigkeit unterstützen, indem sie die Menschen vor der Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen schützt. Sie muss uns davor bewahren, uns selbst abzuschaffen.

Es gibt bereits zahlreiche Ideen für eine nachhaltigkeitsförderliche, im wahrsten Sinne lebendige Demokratie, die Prinzipien wie Verantwortlichkeit und politische Mitbestimmung ausbauen. Sie reichen von der Einführung oder Aufwertung des Verfassungsrangs für Nachhaltigkeit zum Staatsziel, der strikten Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzen, Ombudspersonen für die Zukunft, über eine parlamentarische Vertretung der Interessen künftiger Generationen und politischen Mitspracherechten von Kindern und Jugendlichen, bis hin zur beschränkten Mandatszeit für Volksvertreterinnen oder Zukunftsräten aus zufällig ausgelosten Bürgerinnen.

Der Schlüssel für die Wirkung dieser und ähnlicher zukunftsweisender Institutionen wäre Verbindlichkeit. Wir brauchen mehr als Dialogforen oder sonstige Talkshop-Formate, bei denen sich ohnehin engagierte Bürgerinnen und Expertinnen austauschen, um Absichtserklärungen für die Schubladen der Ministerien zu produzieren. Stattdessen brauchen wir Mut zu demokratischen Experimenten mit innovativen Formaten, welche die traditionellen Institutionen wie Regierungen und Parlamente nicht nur beraten, sondern verbindlich ergänzen.

Kurz vor der Bundestagswahl und der UN-Klimakonferenz zur Umsetzung des Pariser Klimaabkommens in Bonn (COP23) ist es höchste Zeit für einen Nachhaltigkeitscheck unserer Demokratie. Ziel 16 der Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung lautet „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ für nachhaltige Entwicklung fördern. Es geht darum, die institutionellen Voraussetzungen für die Erreichung aller Ziele zu schaffen. Für demokratische Staaten wie Deutschland bedeutet das: Nur wenn wir unsere Institutionen so anpassen, dass sie langfristige und nachhaltige Politik fördern, kann Demokratie wirklich dauerhaft zu Konfliktvermeidung, Frieden und Stabilität im Sinne des Mottos der Vereinten Nationen beitragen.

 

Okka Lou Matthis, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE)

Der Text wurde ursprünglich in "Die Aktuelle Kolumne" des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik (DIE) veröffentlicht.

Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) zählt weltweit zu den führenden Forschungsinstituten zu Fragen globaler Entwicklung und internationaler Entwicklungspolitik. Das DIE berät auf der Grundlage unabhängiger Forschung öffentliche Institutionen in Deutschland und weltweit zu aktuellen Fragen der Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem DIE veröffentlichen wir die "Aktuellen Kolumnen" mit UN-Bezug auch auf den Portalen der DGVN.

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