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Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie – ein Paradigmenwechsel?

Soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und in­ternationale Verantwortung sind Leitprinzipien, an denen sich politisches Handeln ausrichten muss. Die Deutsche Nachhaltigkeits-strategie ist dazu ein wichtiger Schritt. Für eine konsequente Umsetzung der Agenda 2030 in und durch Deutschland ist sie aus Sicht der Organisation Women Engage for a Common Future (WECF) allerdings noch keine hinreichende Grundlage. WECF fordert deshalb die neue Bundesregierung auf, die Nachhaltigkeitsstrategie kohärent und ressortübergreifend weiterzuentwickeln, damit nachhaltige Entwicklung und Geschlechtergerechtigkeit ohne weitere Verzögerung ermöglicht und eingeleitet wird.

Logo der WECF

Anfang 2017 hat die Bundesregierung die „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) 2016“ veröffentlicht. Die neue Gliederung der Strategie nach den 17 Hauptzielen der Agenda 2030 mit jeweils eigenen Maßnahmenpaketen orientiert sich an 63 statt bisher 38 Indikatoren.

Erfreulich ist, dass die internationale Verantwortung Deutschlands stärker in den Fokus rückt. Gerade im Vergleich zu anderen Staaten der Welt hat die Bundesregierung nicht nur die Nachhaltigkeitsarchitektur konstruktiv weiterentwickelt, sondern auch die globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung in ihrer Universalität und ganzen Umfänglichkeit für Deutschland als „Nachhaltigkeits-Entwicklungsland“ anerkannt. In Zeiten, wo vielerorts autoritäre Regierungen den Raum der Zivilgesellschaft beschneiden, sieht die Strategie wichtige neue Beteiligungs- und Weiterentwicklungsprozesse vor. Allerdings klafft zwischen diesem Anspruch und der konsequenten Umsetzung der Ziele eine gewaltige Lücke. In ihrem inhaltlichen Anspruch bleibt die Strategie deutlich hinter dem zurück, was nötig wäre, um die 2030-Ziele zu erreichen. Der Kohleausstieg in Deutschland wird zwar angesprochen, aber ohne konkretes Datum und Handlungsplan. Die notwendige Wende zu Nachhaltigkeit in Landwirtschaft und Verkehr fehlt völlig. Viele Ziele sind nicht ambitioniert genug, einige zu unkonkret und es fehlt an einer stringenten Handhabung des Nexus zwischen den Zielen, so z.B. an einem durchgehenden geschlechtergerechten Ansatz.

Es geht nun darum, dass die Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und der Pariser Klimaziele in der Politik, ressortübergreifend, im Bundestag und im Alltag auf allen Ebenen eine zentrale Rolle erhält.

Die Sustainable Developement Goals (SDGs) und die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie – ein Paradigmenwechsel?

Bisher ist davon sehr wenig zu spüren. Die Widersprüche, die großen Herausforderungen und Chancen, die mit den globalen Zielen verbunden sind: Wir brauchen Konzepte für mehr Zukunftsfähigkeit, Teilhabe und soziale Gerechtigkeit. Es muss auf die anfallenden Kosten aufmerksam gemacht werden für eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft und vor allem auf die verheerenden Auswirkungen, die die Fortsetzung der bisherigen Laissez-faire- Politik auf die Erde hat. Die planetaren Grenzen sind bereits in verschiedenen Bereichen überschritten: Der "Earth Overshoot Day" war am 2.8.2017 und der „German Overshoot Day“ war bereits am 24.4.2017.

Die Nachhaltigkeitsstrategie muss in den nächsten Jahren intensiv konkretisiert und umgesetzt werden. Und dies bedeutet eine ehrliche, substanzielle und transparente Beteiligung der Zivilgesellschaft. Die neue Bundesregierung muss sich mit ihrem Koalitionsvertrag an der 2030-Agenda messen lassen können. Sämtliche Gesetzesvorhaben, Sektorpolitiken und Pläne müssen künftig auf Kompatibilität mit der Agenda 2030 bzw. dem deutschen Umsetzungsplan geprüft und ggf. korrigiert werden. Dies gilt auch für die Politik der Bundesregierung auf EU-Ebene sowie in internationalen und multilateralen Institutionen.

Konkret bedeutet dies auch Sicht von WECF in den Kernthemen:

Zu SDG 7 / SDG 13: Es wird begrüßt, dass die nationale Umsetzung des SDG 7 mit der Energiewende erfolgt, die in Deutschland den Rahmen für eine nachhaltige Energiepolitik mit langfristigen Zielen setzt. Die Energiewende ist zudem zentraler Bestandteil der deutschen Klimaschutzpolitik. Hier hat Deutschland einen detaillierten, langfristigen Klimaschutzplan für die Entwicklung der Treibhausgasemissionen vorgestellt. Das Energie- und Klimaziel und ihre Unterziele bleiben insgesamt dennoch relativ vage und haben keine wirklich neuen, greifbaren Verpflichtungen etabliert. So gelang es nicht, Ziele zur Emissionsreduktion zu verankern, mit denen das Pariser Abkommen erfüllt werden kann. Deutschland wird sein Klimaziel für 2020 vermutlich nicht erreichen. Eine solche „Absage“ an das Pariser Klimaabkommen wäre insgesamt und v.a. sozial- und außenpolitisch fatal zu einer Zeit, in der die erneuerbaren Energien weltweit immer günstiger und wettbewerbsfähiger werden, die Klimafolgen immer stärker zuschlagen und sich die Welt nun ernsthaft kooperativ an den Klimaschutz machen muss.

Was WECF für SDG 7 und 13 in Deutschland noch fordert: Die Einführung eines überprüfbaren Klimaschutzgesetzes, in dem die Klima- und Energiepolitik mit sofortiger Wirkung mit dem 1,5-Grad-Limit in Einklang gebracht wird. Ein Kohleausstiegsplan muss sofort verbindlich auf den Weg gebracht und sozial- und wirtschaftspolitisch umgesetzt, sowie der dezentrale Ausbau der erneuerbaren Energien beschleu-nigt statt gebremst werden. Als Schlüsselindikator sollte auf-genommen werden: die Höhe der Subventionen für fossile Energieträger, für Kernkraft und für erneuerbare Energien im Verhältnis zu allen Subventionen im erneuerbaren Energiesektor. Eine verbindliche Energiespar-Strategie muss auf den Weg gebracht werden. Außerdem muss ein Divestment aus fossiler Energie in allen Finanzinstitutionen erreicht werden, v.a. durch öffentliche Investoren.

Deutschland in der Welt: Deutschland muss sich für eine radikale Verbesserung des EU-Klimaziels einsetzen, da das CO2-Minderungsziel der EU von 40% für 2030 nicht dem fairen Anteil Europas an den globalen Anstrengungen (1,5°C-Obergrenze) entspricht. Es braucht eine verstärkte technische und finanzielle Kooperation mit dem globalen Süden zur Förderung von erneuerbaren Energien, vor allem dezentrale und sozialverträgliche Lösungen im ländlichen Raum, um Zugang zu Energie für alle Bevölkerungsschichten zu erreichen. Im Bereich der internationalen Klimafinanzierung gibt es positive Entwicklungen. Deutschland muss dazu beitragen, dass Zusagen konkretisiert, eingehalten und ausgeweitet werden. Deutschland und die EU müssen die Gewinnung und den Import fossiler Rohstoffe beenden sowie einen sofortigen Finanzierungsstopp durch staatseigene Banken und für die Bürgschafts-vergaben von fossilen Kraftwerken einleiten.

Zu SDG 3: Die Zunahme von nicht ansteckenden Krankheiten wie Fruchtbarkeitsstörungen, Krebserkrankungen, neurologischen Erkrankungen, etc. ist signifikant. Die Gesundheitskosten, wie z. B. für Diabetes, sind enorm. Eine Ursache stellen u.a. gesundheitsschädigende Chemikalien dar, die sich in vielen Produkten des täglichen Bedarfs befinden und in unseren Körper gelangen. Eine strenge Regulierung dieser Stoffe und die Bereitstellung von Information für Multiplikatoren und Konsument(innen) wäre eine Prävention für bessere und nachhaltige Gesundheit, vor allem für Schwangere und Kinder. Dies gilt insbesondere für Chemikalien, die als krebserregend, mutagen, reprotoxisch, persistent und endokrin wirksam eingestuft werden.

Was WECF für SDG 3 noch fordert: Aktivitäten und Kooperationen mit Akteuren des Gesundheits-bereiches, die zu einer Verringerung der Schadstoffexposition führen; Förderung der Ausbildung von Toxikologen, Umweltmedizinern, spezielle Informationen für Ärzte und Hebammen, Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) etc.; die Teilnahme Deutschlands an der Muttermilch-Studie der WHO mit genauen Angaben, welche Stoffe vorgeschlagen werden sollen.

Zu SDG 6: Die Ziele, die Eutrophierung in Deutschland zu reduzieren und die Rückgewinnung von Phosphor zu fördern, sind zu begrüßen. Was die Nitratbelastung im Grundwasser angeht, muss an der Quelle begonnen werden, den Eintrag durch steigende Massen-tierhaltung und Biogas-gewinnung stark einzugrenzen. Die Regionalität der Lebensmittel-produktion sowie Biolandbau müssen gefördert werden. Erhöhte Nitratgehalte machen enorm aufwändige Trinkwasseraufbe-reitungsverfahren für Wasser-versorger notwendig und die Kosten dafür müssen die Verbraucher(innen) über die gestiegenen Trinkwasserpreise zahlen, anstatt die Verursacher. Dazu sind umfangreiche Aufklärungskampagnen notwendig mit den Zielen: Trinkwasser aus dem öffentlichen Netz ist sicher und gesund, regionale Lebensmittelproduktion und -verkauf, keine Lebensmittelexporte in Entwicklungsländer.

Was WECF für SDG 6 in Deutschland noch fordert: Qualitäts-verbesserung von Sanitäranlagen im öffentlichen Raum (Schulen, Büros, Kommunen, etc.), mangelnde Hygienestandards und zu geringe Anzahl von Toiletten gehen oft auf Kosten von Frauen und Mädchen. Senkung der Mehrwertsteuer für Hygiene-produkte für Mädchen und Frauen (Tampons und Monatsbinden), die in Haushalten mit vielen weiblichen Personen die Finanzen belasten können. Die Reduktion von Verschmutzung von Gewässern durch schädliche Chemikalien aus industrieller Produktion, pharmazeutischen Produkten, Chemikalien aus Produkten (Nanopartikel), und die Nennung des Verursacherprinzips (polluter pays) sind essentiell, um SDG 6 zu erreichen. Deutschland in der Welt: Wir unterstützen das Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr 2030 jährlich 10 Millionen Menschen weltweit mit deutscher Unterstützung Zugang zu Trinkwasser- und Sanitärversorgung erhalten. Dabei ist es wichtig, dass im Sinne von „No one left behind“ Frauen, arme Bevölkerungsschichten, gerade im ländlichen Raum, sowie Minderheiten bevorzugt versorgt werden, da gerade diese Gruppe schwierige Bedingungen haben, ihre Interessen durchzusetzen (weniger Zugang zu Ressourcen). Mit der Wasserversorgung muss immer eine nachhaltige Sanitärversorgung einhergehen, um einerseits den Menschen, insbesondere den Frauen und Mädchen, die Würde zu gewahren, und andererseits die Umwelt und die Wasserressourcen zu schützen.

Zu SDG 12: Die DNS nennt die Nachhaltige Chemie (NC) als das maßgebliche Instrument zur Erreichung dieses Ziels, das „ökologische, ökonomische und sozialpolitische Aspekte als ganzheitlichen Ansatz in Entscheidungsprozesse über die Herstellung und Nutzung von Chemikalien mit einbezieht.“ NC als einziges Element für die Sicherstellung einer umwelt- und gesundheitsfreundlichen Chemikalienpolitik greift zu kurz. Der Begriff der nachhaltigen Chemie, so wie er derzeit definiert ist, birgt die Gefahr, zu einem Instrument der chemischen Industrie mit ihren ökonomischen Zielsetzungen zu werden.

Was WECF für SDG 12 in Deutschland und international noch fordert: Nachhaltige Chemie muss erstens die Gefährdungsreduktion vollständig in eine genauere Definition mit klaren Zielen und Indikatoren integrieren, zweitens die Verringerung und Beseitigung von gefährlichen Chemikalien aus der Herstellung und Verwendung priorisieren, drittens alle Kosten der Produktion (Umwelt, Gesundheitseffekte, sozio-ökonomische Kosten) und alle Mittel zur Beseitigung von toxischen Altlasten mit einbeziehen und viertens für volle Transparenz entlang der Produktionskette sorgen. Das Thema Chemikalien hat u.E. eine eingeschränkte Betrachtung. Eine explizite Erwähnung findet sich nur im Zusammenhang mit dem SDG 12.4 mit Fokussierung auf den Begriff der Nachhaltigen Chemie (NC). Das Thema Schutz vor gesundheits- und umweltschädlichen Chemikalien sollte u.a. in SDGs zu Wasser, Landwirtschaft und Gesundheit Eingang finden.

Zu SDG 5: Die Verankerung der Geschlechtergerechtigkeit und der Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen als eigenes SDG sowie zudem als Querschnittsthema in der gesamten Agenda 2030 ist begrüßenswert. Das Gesetz für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst von 2015 ist ein Schritt in die richtige Richtung, doch betrifft dies nur wenige Frauen. Ein globales Ziel der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist die wirtschaftliche Teilhabe von Frauen und Mädchen zu stärken.

Was WECF im Bereich SDG 5 in Deutschland noch fordert: Eine konsequente Umsetzung des Gender Mainstreamings sowie des Gender Budgetings in allen Bereichen der Nachhaltigkeitspolitik ist notwendig, damit die Geschlechtergerechtigkeit als Querschnittsthema durchgängig Eingang in alle anderen Bereiche findet.

Deutschland in der Welt: Wir begrüßen den Entwicklungspolitischen Aktionsplan zur Gleichberechtigung der Geschlechter 2016 – 2020 sowie die jährlich verfassten Roadmaps zu dessen Umsetzung. Doch braucht eine geschlechtergerechte Umsetzung der SDGs mehr Transparenz durch Monitoring und effiziente Evaluierung anhand konkreter, geschlechtergerechter Indikatoren. Dabei ist auch auf die Einbindung von Gender-Expert(innen) und Frauen- und Genderorganisationen zu achten, wobei diese institutionell und finanziell Unterstützung brauchen, um ihre Arbeit und Monitoring-Funktionen wahrnehmen zu können.

Fazit: Nachhaltige Entwicklung auf allen Ebenen

Wirtschaftswachstum wird immer noch als Allheilmittel betrachtet, auch derzeit im deutschen Bundestagswahlkampf. Derzeit gibt es noch kein Wirtschaftssystem, bei dem das Wachstum absolut vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden konnte. Trotz Wachstum hat die soziale Ungleichheit in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zugenommen und es findet eine Prekarisierung in der Arbeitswelt statt. Wachstum, welches nicht vom Ressourcenverbrauch abgekoppelt ist, führt weiterhin zu ökologischen und sozialen Herausforderungen. Die Festlegung auf permanentes Wirtschaftswachstum (pro Kopf) weltweit steht im Widerspruch mit den planetaren Grenzen. Die DNS und das SDG 8 bedeuten derzeit die Übernahme und Festschreibung der Wachstumsideologie als globales Ziel. Es braucht eine zunehmende Umsetzung von Konzepten, wie wirtschaftliche Entwicklung mit einer Verringerung des Umweltverbrauchs innerhalb der ökologischen Grenzen realisiert werden kann, z.B. durch ökologische Steuerreform und den Abbau umweltschädlicher Subventionen.

Eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Situation für viele Länder des globalen Südens ist dringend erforderlich. Hier ist weniger Wirtschaftswachstum geeignet als eine Umverteilung (z.B. Boden- und Steuerreformen, Einhaltung des Arbeitsrechts, etc.) und eine Stärkung von Landwirtschaft, Eigenversorgung und lokalen Ökonomien. Das Textilbündnis ist eine sehr begrüßenswerte Initiative. Deutschland muss auf Ansätzen aus den Ländern des globalen Südens, den Degrowth-, Green-Growth und Postwachstumsdiskursen und der Suffizienzpolitik aufbauen. Die Industrieländer müssen sich damit auseinandersetzen, wie die bestehenden Sozialsysteme in wachstumsarmen, bzw. -losen Zeiten („säkulare Stagnation“) finanziert und gendergerecht ausgebaut werden können. Diese notwendige Postwachstumsdebatte muss in der deutschen Nachhaltigkeits-strategie geführt und abgebildet werden, um eine sozial gerechte und ökologisch tragfähige internationale Zusammenarbeit zu gestalten.

Nötig ist eine mutige Politik, die nachhaltige Entwicklung und Geschlechtergerechtigkeit ohne weitere Verzögerung ermöglicht und einleitet.

Bei dem Text handelt es sich um einen Meinungsbeitrag des Organisation Women Engage for a Common Future (WECF).